Bleibenslebensweisen in Kleinstädten

Rühmling, Melanie (2023): Bleibenslebensweisen in Kleinstädten. Die Rolle der sozialen Beziehungen im Entscheidungsprozess des Bleibens in der Kleinstadt. Cottbus: HochschulCampus KleinstadtForschung (Hrsg.), Working Paper 1.

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Kurzzusammenfassung

In der sozialwissenschaftlichen Raumforschung wird den städtischen Räumen eine andauernde Aufmerksamkeit zuteil – und auch das Interesse an den Lebensverhältnissen in ländlichen Räumen scheint (endlich!) Konjunktur zu haben. Aber konkret die Kleinstädte? Bestenfalls werden sie als Teil der ländlichen Räume verhandelt. Dabei umfassen die Kleinstädte etwa 45 Prozent der Landesfläche Deutschlands und etwa 30 Prozent der Bevölkerung leben hier (Milbert/Porsche 2021: 10). Doch auch Personen, die bisher schon immer in einer Kleinstadt wohnen, fragen sich im Laufe ihres Lebens: Gehen oder Bleiben? Denn das Bleiben ist weniger ein starres Verhalten als ein sich wandelnder Prozess. Dieser ist abhängig von lebensgeschichtlichen, interaktionsgebundenen und situativ-kontextabhängigen Aspekten (Rühmling 2022). Doch bisher fehlen Untersuchungen, die soziale Dynamiken des Bleibens in Form von sozialen Netzwerken und Aushandlungsprozessen direkt beobachten. Hier setzt das vorliegende Forschungsprojekt an und fragt: Wer ist wie beteiligt am Entscheidungsprozess des Bleibens in der Kleinstadt?
Schließlich ist das Bleiben in der Kleinstadt keine Einzelentscheidung, sondern in ein soziales Beziehungsgefüge eingebettet. Doch wer gehört dazu? Wer ist relevant? Und welche Rolle hat dabei konkret die Kleinstadt als räumlicher Kontext?
 
Vorgehensweise

Hierzu wurden problemzentrierte Gespräche mit vier Bewohnerinnen von Kleinstädten geführt, um bisherige lebensgeschichtliche Relevanzsetzungen des Bleibens und deren Einbettung in soziale Netzwerke zu verstehen. Hinzu kommt eine standardisierte Netzwerkerhebung, die vor dem Hintergrund der Fragestellung spezifische Beziehungen und Beziehungsstrukturen verdeutlicht.

 
Ergebnis I: Besonders relevant sind die Eltern und sowie die partnerschaftliche Beziehung

Es sind insbesondere die Eltern, die im Entscheidungsprozess des Bleibens eine wichtige Rolle spielen, und zwar über die unterschiedlichen Lebensphasen hinweg. Grund ist, dass sie es sind, die in jeweiligen Lebensphasen konkrete Unterstützung leisten können und darüber hinaus die Bedürfnisse der Gesprächspartnerinnen genau kennen. In der Phase zwischen Schulabschluss und Ausbildung können sie darüber hinaus als Push-Faktoren gelten, ohne dass die Beziehung zwischen ihnen konfliktbehaftet ist.
Zudem ist der:die Partner:in relevant. Innerhalb der Partnerschaft wird sich abgestimmt, verhandelt, sich geeinigt und es werden Verantwortung und Konsequenzen gemeinsam getragen.
Auffällig ist, dass es vor allem die Eltern und der:die Partner:in sind, die die Gesprächspartnerin als passive Akteurin im Entscheidungsprozess positionieren, also die Entscheidungsfindung für die Gesprächspartnerin übernehmen.

 
Ergebnis II: Das Bleiben der Netzwerkakteur:innen wirkt sich auf die Bleibensaspiration aus

Wenn das Bleiben in der Kleinstadt abhängig ist vom bisherigen Lebenslauf und den sozialen Beziehungen, aber auch von aktuellen Bedürfnissen, ist dieser Dreiklang auch auf weitere relevante Personen wie die Eltern oder den:die Partner:in übertragbar und strahlt somit wiederum auf die Bleibensintention der Gesprächspartnerin ab. Für die Entscheidung, vor Ort zu bleiben, ist es also zuträglich, wenn Personen aus dem sozialen
Netzwerk selbst auch in der Kleinstadt aufgewachsen sind. Schließlich gehen damit vielschichtige soziale und räumliche Beziehungen einher, die wiederum die Gesprächspartnerinnen einbeziehen.

 
Ergebnis III: Das kleinstädtische Gefüge als Trägerin der Ortsbindung

Die Atmosphäre vor Ort, die von anderen Bewohner:innen geprägt wird, trägt wesentlich zum Bleiben in der Kleinstadt bei. Allein ein scheinbar lapidares Grüßen, ein „Jeder-kennt- jeden“-Gefühl oder das Wissen um soziale Zusammenhänge intensiviert eine Ortsbindung, die wiederum als Symbol des eigenen Verortens im relevanten Raum genutzt wird. Diese hohe Identifikation durch die anderen Bewohner:innen wirkt sich positiv auf die Entscheidung, in der Kleinstadt zu bleiben, aus.


Ergebnis IV: Die Entscheidung, zu bleiben, misst sich nicht allein an vorhandenen Arbeitsplätzen

Auffällig ist, dass die Entscheidung, in der Kleinstadt zu bleiben, sehr selten auf einer konkreten Problemlage basiert. Der Abwägungsprozess wird nicht nur anhand ökonomischer und rein rational getroffener Teilentscheidungen dargestellt. Vielmehr wird von weichen Standortfaktoren, emotionalen Gründen und einem diffusen Gefühl von „Zufall“ und „Glück“ gesprochen.

 
Fazit

Auch wenn die sozialen Beziehungen auf einer manifesten Ebene von den Gesprächspartnerinnen nicht als ausschlaggebender Grund genannt werden, ist doch sehr auffällig, dass sie wesentlich zum Bleiben in der Kleinstadt beitragen. Es ist daher wichtig, nicht nur die Bedürfnisse einzelner Personen zu fokussieren, sondern das ganze System sozialer Beziehungen in den Blick zu nehmen, wenn es um kleinstädtische Lebensverhältnisse geht.


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