Forschungsbericht: Kinder- und Jugendbeteiligung in Rostock

Visualisierung von Andrea Köster zum Vortrag auf der Kinder- und Jugendbeteiligungs-Konferenz am 13.3.2024 im Rostocker Rathaus

Wins, Marén; Knabe, André (2024): Situationsanalyse zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in der Hanse- und Universitätsstadt Rostock. Rostock: Rostocker Institut für Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis e.V. (ROSIS)

Link zum Bericht

Im Sommer 2023 beauftragte die Partnerschaft für Demokratie Rostock (nachfolgend als PFD be-zeichnet) in Zusammenarbeit mit der Kinder-, Jugend- und Familienkoordinatorin der Hanse- und Universitätsstadt Rostock das Rostocker Institut für Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis e.V. (ROSIS) mit der Durchführung einer lokalen Situationsanalyse zur Kinder- und Jugendbeteili-gung. Die Analyse dient als Wissensgrundlage für die Erstellung eines kommunalen Kinder- und Jugendbeteiligungskonzepts. Ziel der Studie ist es herauszufinden, wann und wo Kinder und Ju-gendliche bereits heute die Erfahrung machen, gehört und beteiligt zu werden, was es dafür braucht und was der Beteiligung im Weg steht.

 

Vorgehensweise

Zunächst wurden im Rahmen eines Workshops mit Expert*innen der Arbeitsbereiche Schulsozial-arbeit, offene Kinder- und Jugendarbeit (OKJA), Quartiersmanagement, Gemeinwesenarbeit und Verwaltung die Gelingensbedingungen und Hürden für gut, bzw. weniger gut funktionierende Kinder- und Jugendbeteiligung erfragt. Außerdem wurden Wissenslücken identifiziert, die im Rah-men der Studie bearbeitet werden sollten.

In der Datenerhebungsphase wurden 13 problemzentrierte Interviews mit Expert*innen sowie 4 Gruppendiskussionen (mit insgesamt 15 Teilnehmer*innen) und 9 Einzelinterviews mit Kindern und Jugendlichen durchgeführt. Die Interviews fanden sowohl in den eher innerstädtisch gelege-nen Stadtteilen Kröpeliner-Tor-Vorstadt und Reutershagen statt, als auch in den Stadtteilen Groß Klein und Toitenwinkel.

 

Wie können Kinder und Jugendliche am besten erreicht werden?

Als effektivster Zugangsweg wurde die persönliche Ansprache genannt, z.B. in Kita, Schule, Hort oder im Sozialraum. Wenn Kinder und Jugendliche Einrichtungen der OKJA besuchen oder in Ver-einen aktiv sind, werden sie in diesen Zusammenhängen oft zur Beteiligung ermutigt. In einigen Stadtteilen gibt es auch aufsuchende mobile Kinder- und Jugendsozialarbeit oder Streetwork. Auch hier können Kinder und Jugendliche Anliegen äußern. Echte Freiräume, die Kinder und Ju-gendliche dazu animieren, ihre Umgebung selbst zu gestalten, sind außerhalb des begrenzten Rahmens der genannten Institutionen selten. Insgesamt zeigt sich, dass die vorhandenen perso-nellen und räumlichen Kapazitäten, den in der Stadt vorhandenen Bedarf der Kinder und Jugend-lichen, sich Raum zu nehmen, Anliegen zu äußern und eigene Ideen umzusetzen, nicht decken.

Social Media spielt vor allem in den Interviews mit Jugendlichen eine große Rolle. Sie nutzen soziale Medien auch, um sich zu informieren. Viele wünschen sich zudem eine Plattform oder einen Social Media Account, der geclustert nach Themen, Interessen, Alter und Stadtteilen Ver-anstaltungen, Angebote und Projekte in Rostock aufzeigt.

In beiden Zielgruppen der Befragung werden Schulen zwar als wichtiger Ansprech- und Koope-rationspartner genannt, eine Verzahnung mit den außerschulischen Einrichtungen, Trägern und Initiativen besteht jedoch in den untersuchten Stadteilen nicht immer. Auch Informationen zu außerschulischen Beteiligungsmöglichkeiten werden kaum an die Schüler*innen herangetragen.

 

Welche Möglichkeiten der Beteiligung gibt es bereits?
In den Gesprächen mit den Expert*innen wird deutlich, dass vor allem in den Großwohnsiedlun-gen abseits der OKJA, Schulen und Horte, entweder wenige (niedrigschwellige) Angebote vorhan-den sind oder das Wissen um vorhandene Angebote fehlt. Außerdem verhindern finanzielle und/oder persönliche Belastungen eine Teilnahme an Beteiligungsangeboten.

Angebote, die außerhalb des Sozialraums liegen, werden von jungen Menschen kaum wahrge-nommen. Als Gründe hierfür nennen die in Toitenwinkel und Groß Klein befragten Expert*innen vor allem Angst vor Stigmatisierung durch Gleichaltrige, die in der Innenstadt wohnen und die Hochschwelligkeit der angebotenen Formate im innerstädtischen Bereich.

In den Interviews mit den Kindern und Jugendlichen fällt auf, dass viele die Möglichkeiten und Orte der Beteiligung oft nicht kennen – weder in ihrem Stadtteil noch darüber hinaus.

 

Welche Veränderungsbedarfe und Forderungen bestehen derzeit?

Die Expert*innen sehen die dringendsten Handlungsbedarfe bei der personellen Ausstattung, so-wie bei den materiellen und räumlichen Ressourcen. Stadteilübergreifend berichten die Befrag-ten, dass ihre Arbeit zum Teil starken Einschränkungen unterliegt. Personelle Engpässe fallen besonders dort ins Gewicht, wo Kinder und Jugendliche in prekären Verhältnissen leben und unter (Ernährungs-)Armut und hohen psycho-sozialen Belastungen leiden. Um die Bedürfnisse der jun-gen Menschen aufzufangen und zu befriedigen, sind daher mehr und gut ausgebildetes Fachper-sonal, Räume und Budget notwendig.
Ein weiterer Bedarf, der sowohl von Expert*innen als auch den Kindern und Jugendlichen selbst benannt wurde, ist die Verbesserung der Informationsverbreitung. Einerseits fehlen gut struktu-rierte und werbefreie Informationsmöglichkeiten, wie die oben genannte App. Andererseits wird beklagt, dass auch die Informationsverbreitung in den Expert*innennetzwerken (über Trägergren-zen hinaus oder aus dem Sozialraum in die Schule und zurück) oft nicht funktioniert. Eine Koor-dinierungsstelle für Kinder- und Jugendbeteiligung, die diese Schnittstellenprobleme moderiert und bearbeitet, wurde mehrfach eingefordert.
Kinder und Jugendliche verbringen den Großteil ihrer Zeit in der Schule, daher ist es nicht ver-wunderlich, dass sich viele der von ihnen geäußerten Veränderungsbedarfe auf diesen Ort bezie-hen. Der Wunsch nach mehr Wertschätzung und Anerkennung durch die Lehrkräfte wurde vielfach geäußert. Konkret würde dies für die Kinder und Jugendlichen bedeuten, dass sie die Schule als ihren Lebens- und Lernort mitgestalten dürfen.
Als Interessenvertretung für die Belange der Kinder und Jugendlichen in Rostock verlangen ins-besondere die bereits politisch engagierten Jugendlichen, aber auch viele Expert*innen die Ein-richtung eines Kinder- und Jugendbeirats, der von Politik und Verwaltung gehört und dessen Po-sitionen berücksichtigt werden müssen.

Handlungsimplikationen

Aus den Ergebnissen der Situationsanalyse ergeben sich die untenstehenden Handlungsimplika-tionen hinsichtlich der Erstellung des Kinder- und Jugendbeteiligungskonzepts. Eine detaillierte Erläuterung und Begründung der Implikationen findet sich am Ende des Berichts in Kapitel 4 Handlungsimplikationen.

  1. Echte Beteiligung ist auf allen Ebenen verankert.
  2. Echte Beteiligung orientiert sich konsequent an der Lebenswelt von Kindern und Jugend-lichen.
  3. Echte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen bezieht deren Eltern, Betreuungsperso-nen und soziales Umfeld ein.
  4. Echte Beteiligung setzt die Bedürfnisbefriedigung der Kinder- und Jugendlichen voraus.
  5. Echte Beteiligung muss vom Sozialraum ins Rathaus gedacht und organisiert sein.
  6. Echte Beteiligung ist transparent und hat sichtbare Folgen.
  7. Echte Beteiligung berücksichtigt Übergänge im Lebenslauf und ermöglicht Anschlüsse.
  8. Echte Beteiligung fördert das Engagement von Lebensweltexpert*innen in Politik und Verwaltung.
  9. Echte Beteiligung nimmt Schulen als Ort der Mitbestimmung und Demokratiebildung in die Verantwortung.
  10. Echte Beteiligung gibt Kindern und Jugendlichen eine Stimme.
  11. Echte Beteiligung wird regelmäßig auf ihre Wirksamkeit geprüft.