Wissenschaftliche Begleitung zur „Sommerstraße ‚Am Brink'“ 2022

Wins, Marén; Knabe, André (2023): Die Sommerstraße Am Brink 2.0. Wissenschaftliche Begleitforschung zum zweiten Verkehrsversuch in der Rostocker Kröpeliner-Tor-Vorstadt. Rostock: Rostocker Institut für Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis (ROSIS) e.V.

DOI: https://doi.org/10.57951/w4sw-x723

Link zur PDF-Version des Berichts

Kurzzusammenfassung

In den Sommermonaten 2021 führte das Amt für Mobilität der Hanse- und Universitätsstadt Rostock erstmals das Projekt „Sommerstraße ‚Am Brink‘“ durch. Ziel war es, einen belebten Verkehrsknotenpunkt in der Kröpeliner- Tor- Vorstadt (KTV) temporär in einen verkehrsberuhigten Bereich umzugestalten und damit zur Belebung des öffentlichen Raums beizutragen.

Basierend auf den Erfahrungen und der detaillierten Auswertung des ersten Verkehrsversuchs[1], beschloss das Amt für Mobilität eine Neuauflage der „Sommerstraße ‚Am Brink'“ und kündigte auf der Internetseite des Rathauses an: „Die KTV macht[e] auch im Sommer 2022 wieder Platz“. Der zweite Verkehrsversuch erstreckte sich in diesem Jahr von der Leonhardstraße 22-25 bis hin zum Barnstorfer Weg 1-4, über den Zeitraum vom 01.06. bis zum 03.10.2022.

Unter Einbezug der Vorschläge von Teilnehmenden des ‚Runden Tisches‘ zur Begleitung des ersten Verkehrsversuchs, des Ortsbeirates KTV und weiterer Akteur:innen, wurde das Konzept für den zweiten Projektzeitraum überarbeitet und angepasst. Das Ergebnis war ein leicht verändertes Verkehrskonzept mit zusätzlichen Haltemöglichkeiten für Kurzzeitparkende und einem etwas verkleinerten Projektbereich. Die temporäre Fußgänger:innenzone wurde in diesem Jahr durch die Errichtung eines zusätzlichen Pollers stärker gegen unbefugten Autoverkehr abgesichert. Eine angepasste Gestaltung mit mehreren nicht-kommerziellen Sitzgelegenheiten und Begrünung sollte im aktuellen Verkehrsversuch zu einer Erhöhung der Aufenthaltsqualität beitragen und das Gesamtkonzept komplettieren[2].

Auch in diesem Jahr wurde das Projekt durch das Rostocker Institut für Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis e.V. (ROSIS) wissenschaftlich  evaluiert. Der vorliegende Bericht fasst die Ergebnisse der Evaluation zur „Sommerstraße ‚Am Brink‘“ 2022 zusammen. Ziel ist es, die Wahrnehmung des Verkehrsversuchs in der Bevölkerung hinsichtlich der folgenden Fragestellungen herauszuarbeiten und nach unterschiedlichen Zielgruppen zu differenzieren:

  1. Wie wurde die „Sommerstraße ‚Am Brink'“ im Jahr 2022 durch die Befragten bewertet?
  2. Wie bewerten die Befragten den Verkehrsversuch im Vergleich zum Vorjahr? Was hat sich im Vergleich zum Vorjahr verbessert, was verschlechtert?
  3. Welche Ziele des Amts für Mobilität konnten umgesetzt werden, welche nicht?
  4. Wie bewerten die Befragten die Möglichkeiten der Bürger:innenbeteiligung zur „Sommerstraße ‚Am Brink'“?
  5. Wie stellen sich die Befragten die Realisierung einer Weiterführung der „Sommerstraße ‚Am Brink'“ vor?

Vorgehensweise

Die Evaluation verfolgt einen methodenintegrativen Ansatz, der sowohl quantitative als auch qualitative Daten zur wissenschaftlichen Analyse verwendet. Die Ergebnisse des vorliegen­den Berichts beruhen auf zwei Teilstudien, in Form von leitfadengestützten qualitativen Interviews mit 14 Vertreter:innen unterschiedlicher Zielgruppen und variierender wohnlicher Distanz zum Projektbereich sowie einer Verteterin der Hanse- und Universitätsstadt Rostock und einer standardisierten quantitativen Befragung von 135 Anwohner:innen.

Ergebnis I: Viel Zustimmung, aber auch ambivalente Meinungen

In der quantitativen Befragung bewerteten knapp 70 Prozent der Anwohner:innen den Verkehrsversuch als gut (8,9%) oder sehr gut (60%) gelungen. 44,4% empfinden die „Sommerstraße ‚Am Brink'“ 2022 als genauso gut oder schlecht wie im letzten Jahr, 38,5% bewerten sie besser als im Vorjahr. Mehr als die Hälfte der Befragten wünscht sich eine Verstetigung des Projekts.

Allerdings zeigen sich im qualitativen Teil der Untersuchung auch ambivalente Bewertungen. Manche positiven Bewertungen wurden mit dem Zusatz versehen, dass das Projekt zu klein gedacht ist. Kritischere Bewertungen zeugen von einer Verunsicherung hinsichtlich der, als von außen herbeigeführt wahrgenommenen, Veränderungen des öffentlichen Raums. Der Charakter des Viertels ändert sich und dies kann sich, je nach individueller Betroffenheit, positiv oder negativ gesehen werden: Es gibt mehr Menschen, die sich im öffentlichen Raum aufhalten, mehr Leben auf der Straße, mehr Grün, mehr Aufenthaltsqualität. Einige Befragte nehmen aber auch mehr Freizeitlärm, mehr Unordnung und eine sich von ihren Bedürfnissen weg entwickelnde Nachfrage bezüglich der gewerblichen und gastronomischen Angebote wahr. Die teilweise erkennbare Ambivalenz in der Bewertung zeigt, dass es schwer sein wird, einfache Lösungen im öffentlichen Raum zu finden – weder in der „Sommerstaße ‚Am Brink'“, noch in Bezug auf andere stadtentwicklungspolitische Maßnahmen in der Hanse- und Universitätsstadt Rostock. Die beiden Studien zur ersten und zur zweiten Auflage des Verkehrsversuchs antworten daher nicht in erster Linie auf die Frage, ob die „Sommerstaße ‚Am Brink'“ eine gute oder eine schlechte Idee ist. Ihre Botschaft besteht viemlehr darin, dass sie eine offene Frage für die Rostocker Politik, Verwaltung und Gesellschaft aufwirft: Auf welche Weise können wir gemeinsam zu guten Lösungen bezüglich der Gestaltung unserer Stadt gelangen?

Ergebnis II: Verschiedene Akteur:innen, unterschiedliche Bedürfnisse

Gastronomie: Ein Teil der interviewten Gastronom:innen spricht sich eindeutig für den Verkehrsversuch aus, berichtet allerdings auch von der Entstehung einer „zweiten Reihe“. Die Gäste halten sich demnach eher im Bereich der „Sommerstraße ‚Am Brink'“ auf und weniger in den angrenzenden Bereichen um die Fußgänger:innenzone .

Gewerbe: Nach wie vor beschreiben einige um den Projektbereich ansässige Gewerbetreibende die „Sommerstraße ‚Am Brink'“ als Existenzbedrohung, da jene Kund:innen ausblieben, die bislang mit dem eigenen Kfz bis vor die Ladentür fahren konnten um dort zu parken oder Waren einzuladen.

Anwohner:innen: Auch die Anwohner:innenmeinung ist weiterhin ambivalent. Zwar sprechen sich die meisten positiv zum Verkehrsversuch aus, oft steht hinter dieser Bewertung jedoch ein ABER. Dieses bezieht sich vor allem auf die Umsetzung des Projektvorhabens und auf die Kommunikation mit den zuständigen Ansprechpartner:innen der Stadt(-verwaltung).

Ergebnis III: Beteiligung und Kritik

Auffällig in der aktuellen Erhebung war, dass es im Zuge des zweiten Verkehrsversuchs deutlich weniger Protest gegen das Projekt gab als beim ersten Durchgang. Dafür gibt es drei Erklärungsansätze:

  1. Das Interesse der Anwohner:innen, Gewerbetreibenden und Gastronom:innen ist rückläufig, da sich diese mit der temporären Umgestaltung des Platzes arrangiert haben und sich aufgrund der Vorabinformationen zum zweiten Verkehrsversuch eine bessere Planbarkeit ergeben hat (z.B. Information zu alternativen Parkmöglichkeiten für Kund:innen).
  2. Ein weiterer Grund für das zurückgehende Engagement sind Resignation und Ermüdung. Der hohe Aufwand des Engagements führe nur zu einem geringen Einfluss, sagen einige der Befragten.
  3. Der Rückzug aktiver Schlüsselpersonen, die die Interessen einer Gruppe öffentlich wahrnehmbar vertreten, verringert das Protestgeschehen insgesamt. Einige der Befragten sind eher in zweiter Reihe für oder gegen die „Sommerstraße ‚Am Brink'“ aktiv geworden. Da sie nicht auf vakante Plätze (‚Runder Tisch‘) nachrücken, geht die Beteiligung der Gruppe insgesamt zurück, sobald sich die Engagierten aus der ersten Reihe zurückziehen. So kann es dazu kommen, dass die Gegenstimmen leiser werden, obwohl die Kritik weiter besteht.

Letzteres ist besonders interessant im Hinblick auf die Aushandlung von Kompromissen zwischen unterschiedlichen Akteur:innengruppen in der Stadt: Die Interessen einer Gruppe werden vor allem dann vertreten, wenn sich Personen finden, die sie kanalisieren und nach außen vertreten. Doch wie lassen sich Gruppen ohne solche Sprecher:innen sinnvoll in Aushandlungsprozesse einbinden (z.B. Kinder, Jugendliche und ältere Menschen)? Wer vertritt ihre Interessen?

[1] Knabe, André; Brumme, Robert; Rühmling, Melanie (2022): „Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung zum Verkehrsversuch „Sommerstraße ‚Am Brink’“. Rostock: Rostocker Institut für Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis (ROSIS) e.V. https://doi.org/10.18453/rosdok_id00003517

[2] Internetseite der Hanse- und Universitätsstadt Rostock, 2022: https://rathaus.rostock.de/de/wirtschaft_verkehr/mobilitaet/321466 [20.2.2022]


Alle Publikationen