Grundlagenpapier zur Lebenssituation junger Menschen in Mecklenburg-Vorpommern

Wins, M.; Rühmling, M.; Knabe, A.; Waschkewitsch, L.; Schiemann, S. (2023): Lebenssituation junger Menschen in Mecklenburg-Vorpommern. Wissenschaftliches Grundlagenpapier. Rostock: Rostocker Institut für Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis e.V. (Hrsg.). https://doi.org/10.57951/1tgf-0689

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Kurzzusammenfassung

Der vorliegende Bericht ist eine Auftragsstudie der vom Landtag am 27. Januar 2022 eingesetzten Enquete-Kommission »Jung sein in Mecklenburg-Vorpommern«, deren Aufgabe darin besteht, Handlungsempfehlungen für die Landespolitik zu formulieren, die zur Beseitigung struktureller Defizite und zur Schaffung attraktiver Perspektiven für junge Menschen in M-V beitragen.

Gegenstand des Auftrags vom 5. Dezember 2022 war die Erstellung eines wissenschaftlichen Grundlagenpapiers zur aktuellen Lebenssituation junger Menschen zwischen 0 bis 27 Jahren in Mecklenburg-Vorpommern. Entlang der Themencluster »Gesellschaftliche Beteiligung junger Menschen«, »Formale und non-formale Bildung«, »Gesundes und sicheres Aufwachsen« sowie »Kinder- und jugendgerechte Infrastruktur« wurden wissenschaftliche Studien so aufbereitet, dass der Enquete-Kommission ein Überblick über die Zahlen, Daten und Fakten zu den aktuellen Themen, sowie zur gesellschaftlichen Entwicklung gegeben ist. Die Bearbeitungszeit betrug 3 Monate.

THEMENCLUSTER 1 »GESELLSCHAFTLICHE BETEILIGUNG JUNGER MENSCHEN«

Systematische Befragungen oder dezidierte, bundeslandspezifische Studien über die Positionierung junger Menschen in M-V zu Demokratie, Politik, Partizipation und Mitwirkung bzw. Mitbestimmung, liegen nicht vor. Die Shell Jugendstudie (2019) verortet das Demokratieverständnis und das politische Interesse junger Menschen auf Bundesebene „im Spannungsfeld von Vielfalt, Toleranz und Populismus“ und zeigt diesbezüglich Differenzen entlang der sozioökonomischen Hintergründe der Befragten auf.

Trotz insgesamt zunehmender Demokratieakzeptanz seit den frühen 2000er Jahren, ist insbesondere in den neuen Bundesländern keine Abnahme der hohen Politikverdrossenheit festzustellen. Dies äußert sich speziell für M-V nicht nur durch eine vergleichsweise geringe Wahlbeteiligung unter jungen Erwachsenen, sondern auch durch spezifische anti-demokratische bzw. demokratiegefährdende Orientierungen und Tendenzen; eine möglichst frühe Demokratiebildung sowie positive Selbstwirksamkeitserfahrungen in Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen erscheinen damit umso wichtiger.

Demokratieerziehung und Beteiligung werden zunehmend in der Elementarpädagogik implementiert; Partizipation ist oft schon in die Konzepte der Kindertagesstäten integriert. Weiterführend wäre eine explizite Festschreibung zur Demokratieerziehung und Partizipation auch für den Primarbereich notwendig. Obligatorischer Teil des Unterrichts werden demokratische und politische Bildung jedoch erst ab Klasse sieben oder acht und selbst dann entfallen vergleichsweise wenige Unterrichtsstunden in Mecklenburg-Vorpommern auf das Fach Sozialkunde.

Bundesweit finden sich in circa 5% aller Kommunen Kinder- und Jugendparlamente. Maßgeblicher Faktor zur Implementierung eines Kinder- und Jugendparlaments ist dabei die Gesamtgröße der Gemeinde. Je größer die Gemeinde, desto wahrscheinlicher ist das Vorhandensein eines Kinder- und Jugendparlaments bzw. eines ähnlichen Formats. Im Flächenland M-V sind in 12 Kommunen insgesamt 19 Kinder- und Jugendparlamente implementiert – hier ist in Anbetracht einer Gesamtzahl von 726 Städten und Gemeinden also noch viel Luft nach oben.

Weiterhin erscheint das Thema „junges Ehrenamt“ besonders wichtig sowohl für die Aktivierung und Beteiligung junger Menschen an gesellschaftlichen Prozessen, als auch für die Identifikation der Engagierten mit der Region, in der sie leben. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema wäre zu wünschen. Idealerweise auch im Hinblick darauf, die Diskussion über die im Ehrenamtsmonitor M-V vorgeschlagene Ehrenamtsstrategie unter dem Gesichtspunkt der Verbesserung der Lebensverhältnisse für junge Menschen voranzutreiben.

THEMENCLUSTER 2 »FORMALE UND NON-FORMALE BILDUNG«

Für den Elementarbereich ergeben sich im bundesweiten Vergleich für M-V die höchsten Betreuungsquoten mit einer guten bis sehr guten Betreuungssituation. Die Betreuungsqualität entspricht jedoch oft nicht den empfohlenen Standards.

In den Schulen des Landes ist in den letzten Jahren ein stetiger Anstieg der Schüler:innenanzahl zu verzeichnen. Junge Menschen, die die Schule im Schuljahr 21/22 verließen, taten dies zumeist mit den Abschlüssen der mittleren Reife sowie der Hoch- bzw. Fachhochschulreife. Ihnen folgten die Jugendlichen mit Berufsreife oder ohne Schulabschluss.

Insbesondere für die formal niedrig qualifizierten Jugendlichen (Berufsreife oder ohne Abschluss) und/oder diejenigen mit Migrationshintergrund oder Behinderung, müssen Angebote zur beruflichen Orientierung ausgebaut und Fachpersonal für die individuellen Bedürfnisse und Ressourcen sensibilisiert und qualifiziert werden.

Das Ausbildungsstellenangebot in M-V scheint vielfältig; die Zahl freier Lehrstellen ist hoch, die Zahl junger unversorgter Menschen jedoch auch. Denn neben den oftmals qualifikatorischen Hürden der Jugendlichen ohne Ausbildung, erschwert die Zentralität der beruflichen Schulen und die zum Teil schwer erreichbaren Ausbildungsbetriebe die Aufnahme einer Berufsausbildung.

Vor dem Hintergrund einsetzender Rentenwellen, bei gleichzeitigem Fachkräftemangel, der angestiegenen Zuwanderung geflüchteter Menschen und der Inklusion beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher ist es fraglich, ob die Qualitätsstandards in der Betreuung sowie im Unterricht auch in Zukunft erreicht und flächendeckend gehalten werden können. Dies gilt insbesondere für sehr ländliche und strukturschwache Regionen.

Der Zugang zu außerschulischen Bildungsangeboten ist noch immer stark an die soziale Herkunft und damit einhergehend an den sozioökonomischen Status der Eltern gebunden. Für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche spielt die non-formale bzw. informelle Bildung jedoch eine entscheidende Rolle. Insbesondere die Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit werden häufig von statusniedrigen Gruppen frequentiert. Hier sollten gezielte Maßnahmen zum Ausgleich von Benachteiligungen ansetzen.

THEMENCLUSTER 3 »GESUNDES UND SICHERES AUFWACHSEN«

Gesundes und sicheres Aufwachsen betrifft alle Lebensbereiche junger Menschen. Gesetzliche Regelungen, die Kindern und Jugendlichen ein sicheres Aufwachsen ermöglichen sollen, finden sich unter anderem auf Bundesebene im achten Sozialgesetzbuch, im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz sowie im Jugendschutzgesetz. Trotz dieser normativen Festschreibungen und Hilfeleistungen sind Kinder und Jugendliche in Deutschland nach wie vor häufig diversen Armutsrisiken ausgesetzt oder von Armut in ihren unterschiedlichen Ausprägungen betroffen.

Insbesondere Arbeitslosigkeit und/oder der Alleinerziehendenstatus der Eltern, ein geringes Einkommen, Leben in strukturschwachen ländlichen Räumen und ein Migrationshintergrund gelten als Faktoren, die das Risiko einer Armutsgefährdung im Lebensverlauf erhöhen. Die Krisen der letzten Jahre wirken sich am stärksten auf jene Haushalte aus, die zu ihrer Bewältigung weder materielle (Einkommen, Vermögen, gesicherte Wohnverhältnisse) noch soziale Ressourcen (institutionelle und informelle Unterstützung) in ausreichendem Maße zur Verfügung haben.

Mit Blick auf M-V ergibt sich eine Armutsgefährdungsquote von 18,3% gemessen am Bundesmedian. Altersspezifische Analysen zeigen, dass Kinder und Jugendliche deutlich häufiger von Armut betroffen sind als andere Altersgruppen (zwischen 22,4% und 34,5% je nach Altersgruppe). Die vergleichsweise hohen Armutsgefährdungsquoten in M-V liegen nicht zuletzt auch im niedrigen Einkommensniveau des Landes begründet.

Eine Vielzahl an Studien belegt, dass sich ein Aufwachsen und Leben in Armut in der Kindheit und im Jugendalter nicht nur auf die materielle Lebenslage nachteilig auswirkt: Bildung, Freizeit, Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe sind Lebenslagendimensionen, die stark mit sozioökonomischen Ressourcen zusammenhängen, die einem Haushalt zur Verfügung stehen.

Neben den oben genannten Problemlagen, können (familiäre) Suchterkrankungen ein gesundes Aufwachen junger Menschen gefährden. Im Jahr 2021 haben Klient:innen unter 30 Jahren im gesamten Bundesgebiet die Beratungsstellen vor allem auf Grund exzessiver Mediennutzung, Cannabinoid-Problematiken und Essstörungen aufgesucht. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind jedoch nicht nur selbst von Suchtproblematiken betroffen, sie können auch in suchtbelasteten Familien leben. Im Jahr 2021 suchten 1.415 Klient:innen die Sucht- und Drogenberatungsstellen auf, bei denen (nach freiwilliger Angabe) mindestens ein minderjähriges Kind im Haushalt lebte.

Ein sicheres und gesundes Aufwachsen junger Menschen kann ebenfalls durch verschiedene Formen der Gewalt nachhaltig gefährdet werden. Im Jahr 2021 haben die Jugendämter in Mecklenburg-Vorpommern insgesamt 4.613 Verfahren zur Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen nach § 8 Absatz 1 SGB VIII durchgeführt. Im Ergebnis der Verfahren wurde in 28,3% der Fälle eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung festgestellt. Die häufigste Ursache für diese Einstufung bildeten Anzeichen für Vernachlässigung, die rund die Hälfte aller Fälle betrafen.

THEMENCLUSTER 4 »KINDER- UND JUGENDGERECHTE INFRASTRUKTUR/LEBENSRÄUME«

Mecklenburg-Vorpommern ist durch eine starke räumliche Ungleichverteilung der 18- bis 29-Jährigen in der Fläche geprägt. Diese Altersgruppe konzentriert sich überdurchschnittlich stark in Rostock. Auf Kreisebene leben die 0- bis 17-Jährigen hingegen relativ gleichmäßig auf die Fläche verteilt.

Peripherisierungs- und Segregationsprozesse als sozialräumliche Abkopplungsmechanismen sind in Mecklenburg-Vorpommern sehr stark ausgeprägt, sodass räumliche Ungleichheiten und strukturelle wie symbolische Barrieren im Zugang zu Teilhabe- und Partizipationschancen nicht nur eine Frage der Distanz, sondern auch der finanziellen, sozialen und kulturellen Lebensverhältnisse von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist. Die potentielle Erreichbarkeit von digitalen und analogen Gelegenheitsstrukturen zur Daseinsvorsorge und sozialen Teilhabe sowie entsprechende Mobilitätserfordernisse werden in erster Linie für ländliche Räume problematisiert. Gleichzeitig häufen sich von Armut betroffene Haushalte mit unter 15-Jährigen Familienmitgliedern in den Großwohnsiedlungen der Städte.

Die digitale Bildung im Rahmen des verpflichtenden Informatikunterrichts in den Schulen Mecklenburg-Vorpommerns gilt – was den Lehrplan angeht – als vorbildhaft. Kritisiert werden diesbezüglich nicht die Konzepte, sondern die ungleiche Ausstattung der Schulen mit digitalen Medien, Breitbandanschluss und Fachpersonal.

Die Frage nach dem „Gehen oder Bleiben?“ für Jugendliche und junge Erwachsene erscheint angesichts der strukturellen Gegebenheiten sehr präsent zu sein und eine (temporäre) Abwanderung lässt sich mit Blick auf bestimmte Ausbildungs- und Berufswünsche nicht vermeiden und ist als Teil der Persönlichkeitsentwicklung und des Kompetenzerwerbs auch zu begrüßen. Besonders wichtig für die dauerhafte Identifikation junger Menschen in Mecklenburg-Vorpommern mit ihrer Region ist es, Perspektiven und Möglichkeiten zu erhalten und neu zu schaffen, sich einzubringen und zu verwirklichen: Nicht nur in beruflicher Hinsicht, sondern auch im Rahmen sozialen und gesellschaftlichen Engagements und in der Kommunal- und Landespolitik.

RESÜMEE UND HANDLUNGSFELDER

Die Lebenssituation junger Menschen zwischen 0 und 27 Jahren ist maßgeblich von ihrer jeweiligen sozialen Lage bzw. von der sozialen Lage der Herkunftsfamilie abhängig. Wie in diesem Bericht dargelegt wird, sind Bildungsungleichheiten, Einkommensarmut und sozialräumliche Ungleichheiten als entscheidende Faktoren zu identifizieren, die die Lebensbedingungen junger Menschen in Mecklenburg-Vorpommern beeinflussen und strukturelle Barrieren hinsichtlich sozialer Teilhabechancen und der Verwirklichung von Lebenszielen darstellen. Die Armuts(gefährdungs)quoten von Kindern, der Anteil von Schulabgänger:innen ohne Abschluss, sozial-räumliche Segregation in den Städten und Peripherisierung ländlicher Regionen sind in Mecklenburg-Vorpommern vergleichsweise stark ausgeprägt. Dementsprechend liegen hier die Herausforderungen für politische und sozialplanerische Maßnahmen, die auf eine Verbesserung der Lebenssituation junger Menschen in Mecklenburg-Vorpommern zielen:

  • Sie müssen zum Ersten die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich ihrer Eingebundenheit und Abhängigkeit von der Herkunftsfamilie berücksichtigen und konsequent ungleichheitsmindernde und armutsbekämpfende Maßnahmen ergreifen und eine Verbesserung der sozialen Lage benachteiligter Familien forcieren.
  • Zum Zweiten benötigt eine Verbesserung der Lebenssituation junger Menschen in Meck-lenburg-Vorpommern qualitativ hochwertige, für alle jungen Menschen gleichermaßen zugängliche und sie in ihrer Lebenssituation und ihrer Lebenswelt adäquat unterstützende schulische und außerschulische Bildungsinstitutionen – von der frühkindlichen Bildung bis zur beruflichen Qualifizierung, vom Sportverein bis zum Jugendclub. Die ver-schiedenen (non-)formalen Bildungsinstitutionen sind Ort der Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen hin zu eigenständigen Erwachsenen und erweitern Horizonte in ihrer Funktion als Gatekeeper und Chancenvermittler. Sie sind eine entscheidende Schnittstelle für die Qualifizierung und Vermittlung dringend benötigter Fachkräfte.
  • Zum Dritten bedarf es für die Verbesserung der Lebenssituation junger Menschen in Mecklenburg-Vorpommern die flächendeckende Bereithaltung bedarfsgerechter Infrastrukturen im Nahbereich. Hier sind bedarfsorientierte Investitionen in Ausbau, Neubau, Sanierung, Etablierung und Verstetigung öffentlicher Daseinsvorsorge in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Kultur, Demokratieförderung, Arbeitsmarkt und Verkehr unerlässlich.

Im Zuge der Bearbeitung des vorliegenden Grundlagenpapiers konnten Limitierungen bereits bestehender Berichterstattungen und vorhandener Daten identifiziert werden, die für ein noch umfassenderes und gruppenspezifischeres Bild der Lebenssituation junger Menschen in Mecklenburg-Vorpommern vorteilhaft gewesen wären. Dies umfasst zum einen bundesland- und altersspezifisch quantifizierbare Daten und Analysen, beispielsweise für die Themen Demokratie, Partizipation, Engagement sowie Gesundheits-, Mobilitäts- und Freizeitverhalten junger Menschen, zum anderen aktuelle Monitorings, Evaluationen und Bildungs- sowie Sozialberichterstattungen. Der Enquete-Kommission ist zu empfehlenden, diese fehlenden Datenlücken zu füllen, um eine passgenaue Erarbeitung und Umsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation junger Menschen in Mecklenburg-Vorpommern vollziehen und in ihrer Wirksamkeit evaluieren zu können.


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